29.04.2016

Recht auf Gegenschlag: Meinungsfreiheit schützt auch emotionalisierte Äußerungen

Die Meinungsfreiheit umfasst auch die Freiheit, ein Geschehen subjektiv und sogar emotionalisiert darzustellen. Dies gilt insbesondere dann, wenn es sich um eine Erwiderung auf einen unmittelbar vorangegangenen Angriff auf die Ehre handelt, der gleichfalls in emotionalisierender Weise erfolgt ist ("Recht auf Gegenschlag").

BVerfG 10.3.2016, 1 BvR 2844/13
Der Sachverhalt:
Der Kläger des Ausgangsverfahrens war mit der Beschwerdeführerin liiert, bis sie ihn Anfang des Jahres 2010 wegen Vergewaltigung und gefährlicher Körperverletzung anzeigte. Im darauf folgenden Strafprozess vor dem LG wurde der Kläger freigesprochen, da ihm eine Straftat nicht nachgewiesen werden konnte.

Am Tag des Freispruchs sowie am Tag darauf äußerten sich die Anwälte des Klägers in Fernsehsendungen über die Beschwerdeführerin. Etwa eine Woche nach der Verkündung des freisprechenden Urteils erschien zudem ein Interview mit dem Kläger, in dem er über die Beschwerdeführerin sprach. Daraufhin gab auch die Beschwerdeführerin ein Interview, das eine Woche nach der Veröffentlichung des Interviews mit dem Kläger erschien. In der Folgezeit begehrte der Kläger von der Beschwerdeführerin die Unterlassung mehrerer Äußerungen, die sie im Rahmen dieses Interviews getätigt hatte.

LG und OLG gaben der Klage antragsgemäß statt. Die Nichtzulassungsbeschwerde zum BGH blieb ohne Erfolg. Das BVerfG gab der Verfassungsbeschwerde, mit der sich die Beschwerdeführerin gegen alle drei Entscheidungen wendet und im Wesentlichen die Verletzung ihrer Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG) rügt, statt.

Die Gründe:
Die angegriffenen Entscheidungen verletzen die Beschwerdeführerin in ihrer Meinungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG.

Die Urteile des LG und des OLG berühren den Schutzbereich der Meinungsfreiheit der Beschwerdeführerin. Die Einordnung der Äußerungen als Werturteile und Tatsachenbehauptungen ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Die Tatsachenbehauptungen sind nicht erwiesen unwahr. Im Strafverfahren konnte nicht geklärt werden, ob die Angaben der Beschwerdeführerin oder die des Klägers der Wahrheit entsprechen. Nach dem Freispruch des Klägers stellen sich deshalb die verschiedenen Wahrnehmungen als subjektive Bewertungen eines nicht aufklärbaren Geschehens dar, die nicht als Tatsachenbehauptungen, sondern als Meinungen zu behandeln sind.

Die angegriffenen Entscheidungen verletzen die Meinungsfreiheit der Beschwerdeführerin. Die Untersagung der streitgegenständlichen Äußerungen bewegt sich nicht mehr im fachgerichtlichen Wertungsrahmen. Das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung ist als subjektive Freiheit des unmittelbaren Ausdrucks der menschlichen Persönlichkeit ein grundlegendes Menschenrecht. Sie umfasst nicht zuletzt die Freiheit, die persönliche Wahrnehmung von Ungerechtigkeiten in subjektiver Emotionalität in die Welt zu tragen. Dabei kann insbesondere bei Vorliegen eines unmittelbar vorangegangenen Angriffs auf die Ehre eine diesem Angriff entsprechende, ähnlich wirkende Erwiderung gerechtfertigt sein. Wer im öffentlichen Meinungskampf zu einem abwertenden Urteil Anlass gegeben hat, muss eine scharfe Reaktion auch dann hinnehmen, wenn sie das persönliche Ansehen mindert.

Die angegriffenen Entscheidungen genügen diesen verfassungsrechtlichen Maßstäben nicht. Zwar haben die Gerichte zutreffend einerseits das große Informationsinteresse der Öffentlichkeit und andererseits den Freispruch berücksichtigt, der dazu führt, dass die schweren Vorwürfe, die Gegenstand des Strafverfahrens waren, nicht unbegrenzt wiederholt werden dürfen. Auch haben sie berücksichtigt, wieweit die Äußerungen sich auf öffentliche Angelegenheiten bezogen. Indem die Gerichte davon ausgingen, dass sich die Beschwerdeführerin auf eine sachliche Wiedergabe der wesentlichen Fakten zu beschränken habe, und hierfür auf das öffentliche Informationsinteresse abstellen, verkennen sie die durch Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG auch unabhängig von einem solchen Interesse geschützte Freiheit, ein Geschehen subjektiv und sogar emotionalisiert zu bewerten. Zugleich übersieht diese Sichtweise das öffentliche Interesse an einer Diskussion der Konsequenzen und Härten, die ein rechtsstaatliches Strafprozessrecht aus Sicht möglicher Opfer haben kann.

Zu Gunsten der Beschwerdeführerin war in die Abwägung zudem einzustellen, dass sie sich in unmittelbarer zeitlicher Nähe zu dem (noch nicht rechtskräftigen) Freispruch äußerte und lediglich wiederholte, was der Öffentlichkeit aufgrund der umfänglichen Berichterstattung zu dem Strafverfahren bereits bekannt war. Die Gerichte haben überdies das vorangegangene Verhalten des Klägers nicht in der gebotenen Weise berücksichtigt. Der Beschwerdeführerin steht ein "Recht auf Gegenschlag" zu und dabei ist sie nicht auf eine sachliche, am Interview des Klägers orientierte Erwiderung beschränkt, weil auch der Kläger und seine Anwälte sich nicht sachlich, sondern gleichfalls in emotionalisierender Weise äußerten. Der Kläger, der auf diese Weise an die Öffentlichkeit trat, muss eine entsprechende Reaktion der Beschwerdeführerin hinnehmen.

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BVerfG PM Nr. 21 vom 29.4.2016
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